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Der Begriff der Komplementarität

Franz Rieder •    (Last Update: 20.11.2019)

Wer aus den vorherigen Absätzen eine Nähe zum Begriff der Komplementarität in der Physik verspürt hat, darf seinen Vermutungen ruhig trauen. Also ist an dieser Stelle ein weiterer kurzer Blick auf die Physik und den Begriff der Komplementarität nicht schädlich. Er rekurriert in der Wissenschaft der Physik auf einen Effekt, der in dem mittlerweile berühmten Doppelspaltexperimenti beobachtet wurde, den sog. Interferenzeffekt, oder das Interferenzmuster, aus dem wir den Begriff der Komplementarität herleiten, der für uns eine grundlegend wichtige Bedeutung in erkenntnistheoretischer Hinsicht hat.

Das von Niels Bohr im Jahr 1927 auf einem Physikerkongress in Como in die Quantenphysik eingeführte Komplementaritätsprinzip kennzeichnete er selbst mit dem Satz: „Die Begriffe Teilchen und Welle ergänzen sich, indem sie sich widersprechen; sie sind komplementäre Bilder des Geschehens.“ Und weiter: „The very nature of the quantum theory thus forces us to regard the space-time co-ordination and the claim of causality, the union of which characterises the classical theories, as complementary but exclusive features of the description, symbolizing the idealisation of observation and definition respectively.”ii „Nach dem Wesen der Quantentheorie müssen wir uns also damit begnügen, die Raum-Zeit-Darstellung und die Forderung der Kausalität, deren Vereinigung für die klassischen Theorien kennzeichnend ist, als komplementäre, aber einander ausschließende Züge der Beschreibung des Inhalts der Erfahrung aufzufassen, die die Idealisation der Beobachtungs- bzw. Definitionsmöglichkeiten symbolisieren.“iii Präziser kann man es kaum formulieren.

Komplementarität ist hier in der Physik als ein Begriff der Erkenntnistheorie veranschlagt, für zwei widersprüchliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen (Licht als Welle oder Teilchen resp. Materie) oder Versuchsanordnungen, die aber in ihrer wechselseitigen Ergänzung zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind. Dieser Begriff der Komplementarität wurde auf viele Gebiete übertragen und wurde im Laufe der Zeit vieldeutig und meint heute häufig nur noch ein grundsätzliches „Sowohl-als-Auch“, was aber wenig hilfreich, ja sogar falsch ist, und erkenntnistheoretische Reflexionen reihenweise in eine falsche Richtung führt.

Zwei komplementäre Eigenschaften gehören in der ursprünglichen Bestimmung des Begriffs der Komplementarität zusammen, sofern sie dieselbe Referenz haben, also dasselbe „Objekt“ betreffen, jedoch kausal nicht voneinander abhängig sind. Die zwei verwendeten Methoden bzw. Beschreibungen der Beobachtungen unterscheiden sich grundsätzlich im Verfahren und können in der Regel nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander eingesetzt werden. Dieser ‚Zeitversatz‘, eine Art Ungleichzeitigkeit in einer Synchronisation, wird uns gleich eingehender beschäftigen.

Kommen wir aber noch einmal kurz auf Martin Heidegger zurück und lesen, dass das Sein allein als Verständnishorizont zu beschreiben jedoch die ontologische Dimension des Begriffs verfehlt. Denn „Sein“ bezeichnet ja das, was ist. Das Sein ist also nicht eine Vorstellung, die wir von den Dingen haben und dann gleichsam über diese werfen, so dass sie uns innerhalb der Welt verständlich werden. Sein und Verstehen fallen vielmehr untrennbar zusammen: nur das, was verstanden ist, ist auch. Und alles, was ist, ist verstanden. Dies bedeutet, dass die Welt nicht aus singulären Objekten besteht, sondern eine sinnhafte Totalität ist, in der sich immer schon Bezüge unter den Dingen ausgebildet haben. Hinter diese Bezüge kann nicht zurückgegangen werden. Das versuchten viele und andere versuchen es heute erneut. Jene begannen ihre Zweifel im Rahmen der ontogenetischen Entwicklung beim Kind als eines „Sujet enfants“ (Lacan), diese bemühen künstlerisch-kreative Prozesse als unmittelbare Erfahrungen jenseits von Sprache und Verständnishorizonten. Als Psychoanalytiker lag es nahe, dass Lacan die Ontogenese bemüht, ein universelles Element zu finden, dass alle Menschen und die individuelle Entwicklung zusammenbringt, also zwei eigentlich nicht miteinander zu vereinbarende Verstehenshorizonte, innerhalb derer sich die objektive und die subjektive Wahrnehmung herausbilden sollen. In der sog. „Spiegelphase“ der Selbstwerdung sah Lacaniv dieses verbindende Element, welches den subjektiven Wahrnehmungen einen ersten, überindividuellen Sinn verleiht.

Heidegger weist mit seiner Betonung des Verstehens von Sinn vor allem Vorstellungen der damals vorherrschenden Erkenntnistheorie ab, die sich die Frage stellte, wie ein Objekt erkannt werden kann. Dass es zu dieser Trennung zwischen einem zum Erkennen bezugslosen Objekt oder Ding in Raum und Zeit kommen konnte, hatte eine lange Geschichte, die Heidegger minutiös aufgearbeitet hat, vor allem in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“.v Hier entwickelt Heidegger die bereits angesprochene ontologische Differenz, die den Unterschied zwischen dem Verständnishorizont und dem begegnenden Seienden markiert. Dieser rätselhafte Ausdruck: Markierung ist notwendig für das Verstehen, derart nämlich, dass der Verständnishorizont überhaupt zum Thema werden kann, was er, ohne einen zweiten Blick auf das begegnende Seiende so ohne weiteres nicht wäre. Sein und Seiendes wären nicht getrennt, sind es aber sozusagen heuristisch bzw. hermeneutisch für die philosophische Reflexion im Begriff der ontologischen Differenz. Die philosophische Reflexion thematisiert etwas als etwas und jede Thematisierung von etwas schließt etwas anderes notwendigerweise aus; zumindest zeitweise oder methodisch.

Etwas als etwas thematisieren oder sehen lassen – in Sprachen, Künsten, Religionen, Ritualen, sozialen Verhaltensweisen - usw. markiert also eine Ungleichheit, Differenz, nach einem Komparativ. Das „als“ ist also vergleichend, bezeichnet eine Konjunktion. So konjugiert die Transzendentalphilosophie von Kant etwa die Urteilsfähigkeit des Menschen mit dem alle Urteile begleitenden „Ich denke“, mit der Selbstgewissheit des bewusst denkenden Menschen. Heidegger versucht nun das „als“ nicht als etwas Vergleichendes, sondern als etwas Erschließendes zu denken, bleibt aber bei der Bestimmung des „als“ als eine Konjunktion, die nun als eine ontologische Konjunktion imponiert und so die Gewissheiten der Transzendentalphilosophie hinterfragt.

Wir halten an der prinzipiellen Komplementarität fest, die sich in jeder philosophischen Betrachtung grundsätzlich findet, also auch bei Heidegger. Dort sind es die scharf voneinander getrennten Existenzialien und die Seinsbestimmungen, die Heidegger aber nicht als komplementär betrachtet, sondern mit dem „als“ aus Sein und Zeit als daseins-phänomenologisch vermittelt betrachtet. „Existenzialien und Kategorien sind die beiden Grundmöglichkeiten von Seinscharakteren. Das ihnen entsprechende Seiende fordert eine je verschiedene Weise des primären Befragens: Seiendes ist ein Wer (Existenz) oder ein Was (Vorhandenheit im weitesten Sinne).“ (SuZ 45) Die Frage also bleibt, wo kommt das Vermittelnde her, was ist das Vermittelnde, wenn nicht das bewusste „Ich denke“?

Der Mensch bzw. das menschliche Dasein ist bei Heidegger durch die Sorge gekennzeichnet: es ist Sich-Vorweg durch die Sorge in einer immer schon bedeutungsgeladenen Welt, zugleich als Dasein auch als ein Sein-bei, also dem innerweltlich begegnenden Seienden. Die Einheit der zeitlichen Ekstasen des Immer-schon als Gewesenheit, des Sein-bei als Gegenwart und des Sich-Vorweg als Zukunft nennt Heidegger schlicht Zeitlichkeit. Die sich zeitigende Zeitlichkeit im Dasein ist nicht nur Grundlage für das Daseinsverständnis, sondern für das Seinsverständnis überhaupt (als Horizont des Seins) und wird in dieser Funktion ursprüngliche Zeit genannt. Später fügt Heidegger noch eine vierte Komponente hinzu: das Reichenvi. Nach der sog. Kehrevii geht Heidegger vom Ereignis der Lichtung aus: das Ereignis reicht Zeit, schickt Sein.

Das alles klingt literarisch wertvoll, ist aber recht schwer zu verstehen generell wie hier speziell, gehen sowohl bei Heidegger wie bei Bergson, auf den er sich indirekt bezieht, zwei Vorstellungen von Zeit in- und nebeneinander; darauf wollen wir fokussieren. Einmal die Zeit des Selbstbewusstseins und die des Daseins. Im „Ich denke“ bin ich mir der Zeit bewusst. Ich weiß, etwas war gestern oder begegnet mir gerade jetzt, da ich den Bus wegfahren sehe und auch schon weiß, dass in ein paar Minuten der nächste kommt; jedenfalls im städtischen Raum. Es ist dies die mathematische bzw. die physikalische Zeit, oder wie Heidegger sagt, die vulgäre Zeit, die gemessene Zeit des Chronometers, die Uhrzeit.

Aber Zeit ist mehr als die vulgäre Zeit des Selbstbewusstseins, auf der die Zeitvorstellung der exakten Wissenschaften basiert. Sie kennt keine Erinnerung, keine Traumzeit, keine Ungleichzeitigkeit in der Gleichzeitigkeit. Das menschliche Dasein kennt viele Zeiten, das Erinnern und das Vergessen, die biologische Zeit, die Zeit des Selbstbewusstseins und die „verlorene Zeit“ der Sehnsucht. Die vuläre Zeit synchronisiert, also lässt verschwinden, alles, was nicht in der vulgären Zeit aufgeht. Und im Prinzip spannen auch die Naturwissenschaften – außer die Quantenphysik – einen Bogen zwischen Sein und Zeit, die „le temps“ (nicht die „la durée“) von Bergson, die die Zeit als eine Form ungeteilter Ganzheit aus unendlichen, linearisierten „Zeitpunkten“ vorstellt.

Erinnerungen allein schon sind zeitlich betrachtet heterogen. Wir synchronisieren zwar unwillkürlich die erinnerten Ereignisse, sind dabei aber nicht besonders talentiert. Dass wir also stets auf der Zeitachse zwischen heute und erinnertem Zeitereignis durcheinanderkommen, uns irren und über den Zeitpunkt täuschen, liegt an der Heterogenität der Zeit, die einmal die vulgäre und zugleich die erlebte Zeit mit ihren vielfältigen Zeit Einschlüssen umfasst. Beide sind also komplementär und es bedarf schon kontinuierlicher Handhabung präziser Instrumente wie eines Kalenders, um nicht als „krank“ zu geltenviii. Noch interessanter wird es, wenn wir zum Erinnern auch das Vergessen hinzunehmen. Findet das Erinnern schon außerhalb des Selbstbewusstseins statt, dann um so mehr noch das Vergessen, dessen ontologischer Status völlig rätselhaft ist, da im Vergessen nicht einmal eine ontologische Spur von Zeitlichkeit zu finden ist. Wann wir etwas vergessen, ist höchstens feststellbar als etwas, das stattgefunden hat, aber selbst das können wir nicht mit annähernder Gewissheit sagen. Vergessen ist evident, mehr wissen wir nicht und auch nicht, ob das Vergessen in jedem Fall eindeutig ist; manchmal kehrt die Erinnerung ja wieder. Erinnern und Vergessen sind heterogen bzw. komplementär in der Zeitlichkeit unseres Daseins, welches also an seinem Grund von der Komplementarität von Sein und Zeit getragen wird, aus dem die Komplementarität von Erinnern und Vergessen ins Dasein sich entfaltet.

Zurück zum Licht. Man kann mit einiger aber noch zulässiger Unschärfe sagen: ob wir das Licht als Welle thematisieren oder als Teilchen, beides ist zulässig und möglich, beide schließen einander aber aus als gleichzeitige Betrachtungen. Und so ist es auch mit dem komplementären Paar Sein und Zeit sowie Vergessen und Erinnern, was uns noch im Zusammenhang erkenntnistheoretischer Betrachtungen weiterhin beschäftigen wird. Halten wir vom oben gesagten bezüglich Sein und Zeit im Dasein hier fest: Heidegger betrachtet dem Menschen Begegnendes als seiend und dies klingt zunächst auch luzide und ist konstitutiv für Heideggers Denken schlechthin, steckt darin ja auch die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung und Erkenntnis, die sich auf das Begegnende richtet.

Aber was ist das für eine Erkenntnis, was für ein Denken, das uns da präsentiert wird? Wir sehen durchaus die Schwierigkeit, das Begegnende, Seiende, anders zu fassen. Wir versuchen es so: was dem Menschen begegnet, ist nicht seiend, sondern während. Wir wissen und haben das bereits an den Begriffen Raum und Zeit erläutert, dass es weder dimensionslose Zeitpunkte noch dimensionslose Raumpunkte gibt. Denken vereinfacht so die Dimensionen von Raum und Zeit und das Sprechen über Raum- und Zeitpunkte ist letztlich eine raum-zeitliche Synchronisation, die in Wirklichkeit nie stattfindet, nicht stattfinden kann. Wie bereits das sog. und allseits bekannte Pfeil-Paradox nach Zenon: „..., τρίτος ό νν ηθείς, τι ϊστς φερομένη στηκεν.“ (Phys. Ζ 9.239 b 30) „..., das dritte [Argument] ist das soeben genannte, daß der sich bewegende Pfeil ruht.“

Damit bezieht sich Aristoteles auf folgenden Zenonischen Gedankengang zurück: „ε γρ αεί, φησίν, ρεμε πν [ κινεται] ταν κατ τ σον, στιν δ' αε τ φερόμενον ν τ νν, κίνητον τν φερομνην εναι ϊστόν.“ (Phys. Ζ9.239 b5–7) Wenn nämlich immer, sagt er, alles ruht, solange es einen Raum einnimmt, der gleich groß ist wie es selbst, das Bewegte aber immer im Jetzt ist, dann ist der bewegte Pfeil unbewegt.ix In diesem Sophisma vom fliegenden Pfeil wird argumentiert: ein fliegender Pfeil ruhe in jedem dimensionslosen Zeitpunkt in einem dimensionslosen Raumpunkt und also geschlossen, folglich ruht er auch im Ganzen.

Ferber, der sich explizit auf W.D. Ross bezieht, erkennt die Implikationen des Sophisma: Ein Raumpunkt ist unteilbar und ausdehnungslos und: Eine Raumstrecke ist kontinuierlich, insofern sie aus einer kontinuierlichen Menge von Jetztpunkten besteht (S.11) und impliziert, setzt auch den geistigen Vorgang der Synchronisation voraus. Das dahinterliegende, den Geist in diese Richtung der Synchronisation bewegende komplementäre Verhältnis von Raum und Zeit, drängt sich ihm nicht sofort auf. Ferber verweist zurecht darauf, dass das Pfeil Paradoxon dieselben Implikationen beinhaltet wie eine Reihe anderer Paradoxie-Versionen des Aristoteles, etwa das „Dichotomie- und das Achilles-Paradox“, nämlich die Synchronisierung der Raum-Zeit Komplementarität, die deren grundlegende Voraussetzung ist, dass diese Paradoxien überhaupt entstehen können. Wir sehen also in Aristoteles den bewegenden Geist, der das abendländische Denken aus der Heterodoxie des Heraklits in die wissenschaftliche Orthodoxie der Newtonschen Physik geführt hat.

Es ist dies die Antinomie, dass Bewegung (Veränderung) aus einer Aneinanderreihung von bewegungslosen Punkten bestünde, die überwunden werden muss. Man entgeht ihr vielleicht, indem man dem Seienden keine Anwesenheit, kein an-wesen im Hier und Jetzt, sondern eine Richtung, also eine räumliche und eine zeitliche Erstreckung zuordnet. Dies ist deshalb sogar notwendig, weil, wie wir bereits gesehen haben, wir Seiendes deshalb nur erkennen, weil es uns innerhalb einer räumlichen und zeitlichen Erstreckung erscheint. Es ist also vorausgesetzt, dass die Zeit fließt und wir eben nicht zweimal im gleichen Fluss baden, damit wir in der Welt, etwas als etwas erkennen können. Es muss also in einer räumlich ausgedehnten Zeitspanne anwesend sein, um erkannt zu werden; wäre es lediglich ein infinitesimaler Raum-Zeit-Punkt, hätten wir nichts davon. Und weil es anwährt ist auch in der einfachsten Wahrnehmung des Seienden nichts Einfaches und also auch kein Wesen, sondern in der An-Wesenheit (Heidegger, im Sine der Aletheia) bereits ‚west‘, kündigt sich schon ein diskursives Denken an. Dieses diskursive Denken zerlegt nicht gleich das Seiende in etwas Räumliches und Zeitliches, synchronisiert es dann in ein „Ereignis“, sondern versucht im Denken die Komplementarität von Sein und Zeit zu erhalten.

Wir sehen bereits an dieser Stelle, welche Bedeutung das wiederum so rätselhafte „Nicht“ in Heideggers ontologischer Differenz besitzt. Bei Heidegger ist das „Nicht“ als eine einfache Negation bestimmt: „Die ontologische Differenz ist das Nicht zwischen Seiendem und Sein“, was zu zahlreichen Missinterpretationen in der Rezeption der Heidegger-Schriften geführt hat, zumal Heidegger fast gleichzeitig schreibt: „…dass „in Wirklichkeit“ natürlich niemals das Sein ohne ein Seiendes vorkommt. Das Sein bleibt also stets das Sein eines Seienden, weshalb zwar eine Differenz zwischen Sein und Seiendem besteht, beide aber nie getrennt voneinander auftreten können“. Und weiter: „Das Sein ist gerade nicht das Seiende“, denn mit dem ontologischen ist wird ja gerade etwas über ein Seiendes ausgesagt. Und in dieser Art geht es fast endlos weiter: „Sein ist jeweils das Sein eines Seienden“, jedoch nicht darauf reduzierbar: „Das Sein des Seienden“ 'ist' nicht selbst ein Seiendes.“x

Machen wir dem Spuk also vorerst ein Ende, versuchen wir das Verstehens Knäuel zu entwirren. Jeder Schüler hat nach der zweiten Stunde Mengenlehre das „Nicht“ verstanden. Das Seiende ist als eine Teilmenge dem Sein als Gesamtmenge zugehörig, ist aber nicht die Gesamtmenge. Die Teilmenge versteht man also nur, wenn man eine Gesamtmenge davon als eine Differenz, ein Nicht-Teilmenge-sein voraussetzt. Alles bezieht sich in dieser Problematik also auf ein Verstehen, eine bestimmte Form des Verstehens, nämlich einem empirischen Verstehen. Das empirische Verständnis kennt nur Seiendes und dies als eine Unterteilung bzw. Unterscheidung zu einer übergeordneten Gesamtmenge, seien dies nun die Gattung oder der Begriff Lebewesen oder was sonst in den Naturwissenschaften. Und dazu gehört natürlich auch die Zahl, die einzeln nicht vorstellbar ist, sondern nur, wenn man ein Zahlensystem voraussetzt. Darin ist die Zahl ein Signifikant wie etwa in der Sprache ein Wort, also etwas, was etwas bezeichnet, das aber nur einen Sinn macht und verständlich als auch nachvollziehbar ist, wenn man eben ein wenig Mathematik gelernt hat. In seiner als Antrittsvorlesung vorgetragenen Frage zur gleichnamigen Schrift: „Was ist Metaphysik“xi brüskierte Heidegger wohl einige der versammelten Fakultäten, indem er diesen lediglich eine Vorstellung attestierte, die allein auf das Seiende und speziell auf in sich abgetrennten Teilbereiche des Seienden, den sog. Fach- oder Einzelwissenschaften mit ihren Fragen und Erkenntnissen abziele, die als solche deren gesamtes Denken einnehme.

Bis dahin blieb Heidegger aristotelisch und hätte wohl kaum jemanden vom Stuhl gerissen, hätte er nicht unversehens die Verstehensperspektive in Richtung Platon gewechselt. Sie geht aber ultimativ sowohl logisch wie empirisch über das Nicht der Negation hinaus und fragt jetzt nach dem „Nichts“, nach „diesem ganz Anderen zu jeglichem Seiendem, mit dem, was nicht ein Seiendes ist.“ Natürlich verließ er damit den Bereich, den Gegenstand fachwissenschaftlichen, naturwissenschaftlichen Denkens, was die Fakultäten sogleich in Ablehnung und Erstaunen versetzt haben dürfte. Und wieder erscheint die ontologische Differenz rätselhaft, was aber allein daran liegt, dass Heidegger hier die Vorstellung eines komplementären Verhältnisses ausbreitet, es aber nicht vermochte, diese Idee konsequent platonisch und nicht aristotelisch zu Ende zu denken. Denn das „Nichts“ zum Seienden, ist dieses z. B. im Dasein eines Menschen, ist das der Tod und der entzieht sich jedem Verstehen. Mit dem Tod sind alle Hermeneutiken zu diesem Individuum am Ende, zu sich gekommen. Alle Eigenschaften und Bestimmungen einer Person haben keine Gültigkeit mehr, weder sein Geburtsdatum, sein Geschlecht, der Name, seine Hautfarbe und kulturelle Prägung usw.

Alle diese Daten wie auch die in der ökonomischen Sichtweise so bedeutenden Bewegungsdaten, wozu seine Verhaltensdaten gehören, sein Kauf-, Reise- und sonstiges Verhalten, sind irrelevant. Deshalb ist es für die kommerzielle Nutzung auch so wichtig, nicht nur die Big Data der Menschen, also deren Profile zu bekommen, sondern auch das Sterbedatum. Denn ohne das kostet der Mensch nur noch, verursacht ökonomischen Schaden, weil er ja nun nichts mehr kaufen kann und als Konsument also verloren ist. Die Ökonomie des Big Data – wir kommen darauf zurück – hat also den Tod datenlogisch als komplementär begriffen, während Heidegger stets zwischen dem Tod als Teilmenge und als dem „ganz Anderen“ schwankt. Letztlich blieb Heidegger aristotelisch und philosophierte den Tod als einen Teil des Daseins, nämlich als ontologische Angst und ontologische Sorge; aber auch dazu später mehr.

Behalten wir von Heidegger aber so viel bei uns, dass die ontologische Differenz den Unterschied zwischen dem Verständnishorizont und dem begegnenden Seienden markiert und das Verstehen stets über das Seiende hinausgeht, ja sogar so weit, dass unser Verstehen, um dies mit einem sehr schönen Ausdruck von Martin Heidegger zu sagen, in das ganz Andere des Seienden, in das Nichts „hineingehalten“ ist.

So sagen wir, dass das Verstehen diesen Kern einer ontologischen Differenz hat, diese aber keine einfache Negation darstellt, sondern von Beginn an komplementär ist. Gerade deshalb können wir von der fundamentalen Offenheit des menschlichen Verstehens ausgehen, gleichwohl wir allenthalben auf ideelle Beschränktheiten stoßen. Die Offenheit des Verständnisses geht also der Beschränktheit logisch voraus, faktisch und in einem zeitlichen Horizont formuliert, ist unsere Welt, in die wir kommen und in unserem Dasein oft neu uns wieder vorfinden schon durch sinnhafte Bezüge bestimmt. Diese sinnhaften Bezüge sind unserem Verstehen immanent, gehen also mit jedem Verstehen im Verstehen selbst mit, werden also erschlossen. So verstanden ist Verstehen nicht komplementär, sondern relativ, denn wäre es nur komplementär, wäre Verstehen überhaupt nur der Möglichkeit, nicht aber wirklich möglich.

Seine fundamentale Komplementarität besteht also eben darin, dass in jedem Verstehen wieder eine Öffnung zu etwas Unverstandenem enthalten ist, das durch Nicht-Sinnhaftigkeit, durch Nicht-Relativität oder Unbezogenheit ex ante gegeben ist. Wir sehen, insofern wir über das Verborgene, das Unverstande usw. sprechen, haben wir es schon in das fade Licht eines unvollständigen Verstehens, eines Noch-Nicht-Verstandenen gestellt. Ex ante, also noch davor existiert es schlichtweg nicht, ist Nichts. Wir könnten nicht von einem genialen Einfall, von Kreativität, von einem Momentum usw. sprechen, würden wir dieses „Nichts“ nicht voraussetzen und zum Sein hinzunehmen, so wie Heidegger sagte, dass unser Verstehen in dieses Nichts unweigerlich hineingehalten ist, hineingehalten wie in einen Abgrund.

Wir können also hier festhalten, dass für die Philosophie wie für die Physik ein Verständnishorizont, oder eine Idee, bzw. ein Sinnzusammenhang existiert, in dem uns „Objekte“, Seiendes erscheint, die aber nicht zum Seienden selbst gehören. Die Physik betrachtet dabei qua Setzung eines Gegenstandes in ihrer Wissenschaft die Welt als eine Ansammlung singulärer Objekte vor der Formulierung bzw. Thematisierung dieses Gegenstandes im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Hypothese, die in einem unbekannten Zusammenhang stehen, wobei dieser Zusammenhang sinnvoll nur sein kann, wenn er als eine nachvollziehbare Gesetzmäßigkeit, hier die Naturgesetze, thematisiert bzw. verstanden wird. Ein erkennendes Subjekt, ein auf sich als Sinn konstituierender Wissenschaftler oder ein wissenschaftlicher Diskurs existieren hier noch nicht.

In Folge dieser Setzung kommt die Physik dann natürlich auch nicht umhin, sich in die erkenntnistheoretischen Gefilde aufzumachen, um die Trennung zwischen Objekt (Phänomen) und Subjekt (Beschreibung) wieder zusammenzubringen. Man darf daher getrost sagen, dass mit Heisenbergs Unschärferelation die Erkenntnistheorie auch in die Wissenschaft der Physik Einzug gefunden hat. Wir können also bis hierher festhalten, dass das menschliche Dasein in einem „Universum“ von Sinn auftaucht, einem Verständnishorizont oder einer Idee, die dem menschlichen Dasein vorgängig ist, die der Mensch zunächst einmal vorfindet als ein Ganzes, eine sinnhafte Totalität an Bezügen zwischen dem, was war, ist und auch zwischen dem, was nicht ist oder möglich ist.

Bleiben wir noch ein wenig bei der Physik. Die Experimente in der Physik erlauben es, die guten von den schlechten Ideen zu unterscheiden, ja die schlechten sogar als falsch oder unwahr, für die Zukunft auch als unbrauchbar zu erkennen und damit möglicherweise auch zu transzendieren, zu überwinden. Aber nur, wenn die Ideen unter unterschiedlichen Bedingungen geprüft und die Experimente immer wieder, am besten von unterschiedlichen Wissenschaftlern zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten in der Welt wiederholt werden. Aber wie ist es mit der theoretischen Physik, die ja die Idee bzw. der Verständnishorizont für die angewandte Physik ist? Deren Ideen lassen sich ja nicht auf diese wissenschaftliche Weise überprüfen. Versuchte man dies, geriete man unweigerlich in einen tautologischen Zirkel und nichts wäre bewiesen.

Aber ist es denn so von Nachteil und wenn ja, worin läge dieser, wenn die theoretische Physik und die angewandte Physik beide ein Eigenleben hätten, was sich ja im Verlaufe des letzten Jahrhunderts abzuzeichnen begonnen hat? Wenn dem so ist, dass sich die theoretische Physik mit der Idee des Universums beschäftigt, in der neben den Loops auch noch weit mehr unsere Intuition strapazierenden Begriffe wie Dunkle Materie und Schwarze Löcher auftauchen und dies als reine Spekulation nicht nur möglich, sondern auch notwendig wäre, was wäre dann? Wir müssen an dieser Stelle an Kants Kritik der reinen Vernunft erinnern, der dort sagte: „Anschauungen ohne Begriffe sind blind und Begriffe ohne Anschauungen leer“. Die theoretische Physik wäre dann voll von blinden Begriffen und leeren Anschauungen. Aber schauen wir auf die Kraft und die Auswirkungen, die die theoretische Physik auf deren praktische Disziplin ausgeübt hat und wohl auch weiterhin ausüben wird, dann sieht die Bilanz für die theoretische Physik nicht ganz so miserabel aus.


i Das Doppelspaltexperiment gehört zu den Schlüsselexperimenten der Physik. Es wurde erstmals 1802 von Thomas Young mit Licht durchgeführt und führte zur Ablehnung der damals noch vorherrschenden Korpuskel Theorie des Lichts zugunsten der Wellentheorie. Erst Albert Einsteins Arbeiten zum Photoelektrischen Effekt deckten 1905 auch den Teilchencharakter des Lichts auf. In der Quantenphysik dient das Doppelspaltexperiment häufig dazu, den Welle-Teilchen-Dualismus zu demonstrieren. Es kann nicht nur mit Licht, sondern auch mit Teilchen (Elektronen, Neutronen, Atomen, Molekülen wie z. B. Fullerenen) durchgeführt werden. Die dabei beobachteten Interferenzmuster zeigen, dass auch die klassisch nur als Teilchen angesehenen Objekte Welleneigenschaften haben.

Siehe dazu: Anil Ananthaswamy: Through two doors at once – the elegant experiment that captures the enigma of our quantum reality. Dutton, New York 2018, ISBN 978-1-101-98609-7. Eine gut lesbare Geschichte des Doppelspaltversuchs von Young bis zum Quantenradierer (engl.)


ii Niels Bohr: The Quantum Postulate and the Recent Development of Atomic Theory. In: Nature. (Suppl.) Band 121, 1928, S. 580–590.


iii Niels Bohr: Wirkungsquantum und Naturbeschreibung. In: Die Naturwissenschaften. Band 17, 1929, S. 483–486.


iv Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (1948). In: Ders.: Schriften I. Quadriga, Weinheim, Berlin 1986


v Martin Heidegger: Sein und Zeit. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1977 (Heidegger-Gesamtausgabe, Bd. 2, Abt. 1, Veröffentlichte Schriften 1914–1970).


vi Heidegger, Martin, 1979: Sein und Zeit. Tübingen : Max Niemeyer Verlag. Sigle SuZ


vii Heidegger, Martin, 1980: Der Ursprung des Kunstwerks. In: Holzwege, S.1-72, Frankfurt am Main: Klostermann


viii Um differenzial-diagnostisch festzustellen, ob bei einem Menschen eine akute Demenz vorliegt, wird der Arzt feststellen, ob die Patientin/der Patient noch die Uhr lesen kann, also die vulgäre Zeit versteht bzw. seinen Lebensvollzug zeitlich zu synchronisieren vermag.


ix Rafael Ferber, Zenons Paradoxien der Bewegung und die Struktur von Raum und Zeit, Franz Steiner Verlag Stuttgart, Durchgesehener Nachdruck der 1. Auflage München 1981 mit freundlicher Genehmigung der C.H. Beck'schen Verlagsbuchhandlung (Gesamtherstellung der 1. Auflage durch Buchdruckerei Hubert & Co., Göttingen), S. 10

Dazu auch: Ross, W.D., Aristotle's Physics, Oxford 1936.

Ross, W.D., Aristotle's Metaphysics, A revised text with introduction and commentary I, Oxford 1924.


x Vgl. Martin Heidegger: Wegmarken (GA 9), S. 334. Sowie: Martin Heidegger: Sein und Zeit (GA 2), S. 9. Und Martin Heidegger: Sein und Zeit (GA 2), S. 7.


xi Martin Heidegger: Was ist Metaphysik? Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3465035176




Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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